Wenn man es genau nahm, war es eine Art Hassliebe, die Ina-Kristin mit dem Sommer verband. Auf der einen Seite liebte sie die Wärme, die lauschigen Abende, an denen man sich mit Freunden traf und natürlich das Eis essen, einfach, wenn man Lust darauf hatte – die andere Seite hingegen sah in ihrem Alltag vollkommen gegensätzlich aus: Da waren die Einschränkungen, die sie hinnehmen musste, speziell wenn es um leichte Kleidung, wie kurze Röcke ging und … ja, und wenn sie, wie andere Menschen ihres Alters, ungezwungen baden gehen wollte. Bereits seit drei Jahren waren ihr Freizeitaktivitäten in öffentlichen Schwimmbädern nicht mehr ohne Weiteres möglich. Daran trug der Reitunfall die Schuld, von dem sie eine Blasenschwäche übrigbehalten hatte, die ihr seitdem das Leben schwer macht. Zu Anfang hatte sie sich unermesslich geniert, war nur zögerlich an das Thema Erwachsenenwindeln herangetreten und hatte ihrer Leidenschaft für das Wasser ganz und gar abgeschworen. Hobbys, die sich bekleidet ausführen ließen, waren in den Mittelpunkt gerückt und dabei hatte sie das Schwimmen mehr und mehr vermisst.
Durch den Tipp einer Apothekerin war sie auf Bademode mit integrierter Inkontinenzfunktion aufmerksam gemacht worden, die es zu ihrer Freude auch in jungen Schnitten und Farben gab. Wie großartig und was für ein Wendepunkt im Leben der ansonsten so aktiven und lebenslustigen Mittzwanzigerin. Die Sachen ähneln der üblichen Badekleidung so sehr, dass es auf den ersten Blick fast nicht zu erkennen ist, dass es sich um ein Kleidungsstück mit dem vortrefflichen Schutz handelt.
Ohne auch nur eine Sekunde lang zu zögern hatte Ina-Kristin sich einen solchen Badeanzug besorgt und ihn sofort in der nächstgelegenen Schwimmhalle getestet. Und siehe da, er verhinderte das Austreten von Urin im Wasser, ohne sich dabei vollzusaugen, wie es bei einer ihrer üblichen Windeln der Fall gewesen wäre. Vor Staunen und dem riesigen Glücksgefühl, das sie nach erfolgreicher Absolvierung des Badeklamottentests überkommen hatte, war ihr der Mund offen stehen geblieben und sie hatte gleich darauf befreit zu lachen begonnen – und das, obwohl sie sich allein in dem blaugefliesten Becken befunden hatte. Wie nicht anders zu erwarten, war ihr hierbei eine gehörige Menge Pipi in den neuen Badeanzug geströmt, doch es spielte keine Rolle mehr.
Ihre Euphorie hielt noch lange an – mit einem fröhlichen Kribbeln spürbar. Sie wusste, der nächste Schritt würde das Freibad sein, endlich wieder Baden, dazu unter freiem Himmel.
Ein paar Tage später stand sie an einem dieser warmen Juni-Nachmittage vor dem Eingang des Sommerbads. Die Sonne tauchte die Szene, die sie in ihrer sehnsuchtsvollen Lust auf einen Badeausflug so oft vor sich gesehen hatte, in pures Gold. Das Plätschern von Wasser, ausgelassenes Lachen und Musik vermischten sich zu einem Klang, den sie nur noch mit heimlicher Wehmut gehört hatte – und nun erfüllt von Vorfreude.
Ihr Badeanzug in einem leuchtenden Blau mit einem weißen Streifen in der Taille, der sie an die Farben von Strand und Meer erinnerte und wunderbar mit ihren roten Haaren harmonierte, saß perfekt. Der Stoff schmiegte sich sicher und dennoch weich an ihre Haut, die elastischen Beinabschlüsse lagen diskret an, ohne zu verrutschen. Kein Rascheln, kein Spannen, nur sie und dieses unbekümmerte, fast trotzige Gefühl: Ich bin da. Und ich bleibe.
Sie suchte sich einen Platz auf dem Gras, rollte das Handtuch aus, atmete tief ein und ging los.
Mit jedem Schritt über die sonnenwarmen Fliesen, zwischen den flirrenden Schatten der Sonnenschirme hindurch, merkte sie, wie sich ihre Schultern entspannten. Ihre Bewegungen waren leicht, wirkten natürlich. Selbst als sie spürte, wie sich während der ersten Minuten am Beckenrand ein Schwall Urin unkontrolliert löste, blieb ihr Blick gelassen. Es würde fühlbar warm und es kribbelte wie gewohnt, doch zu ihrer Erleichterung tat der Badeanzug, was er sollte. Und ihr Herz konnte weiterschlagen, ohne Furcht oder den üblichen Bedenken.
Sie glitt ins Wasser, tauchte unter und lachte leise vor sich hin, als sie wieder an die Oberfläche kam. Sogleich drehte sie sich auf den Rücken, um sich treiben zu lassen. Die Sonne spiegelte sich auf der Wasseroberfläche, streichelte ihre Wangen. Und sie fühlte sich frei – das erste Mal seit Jahren.
Ein paar Meter entfernt badete eine kleine Gruppe Männer – sichtlich locker, fröhlich, etwa in ihrem Alter. Sie schienen zuerst beiläufig, dann absichtlich in ihre Richtung zu schauen. Einer von ihnen, etwas dunklere Haut, gewelltes Haar, groß und schlank, blieb schließlich an ihr hängen. Nicht aufdringlich, aber neugierig, offen und … irgendwie bewundernd. Es fiel ihr auf und sofort zuckte ein Reflex durch sie hindurch: Rückzug, Tarnung, das gewohnte Schutzprogramm. Doch sie stoppte bewusst und lächelte stattdessen.
Der gut aussehende Mann, vielleicht war er Ende zwanzig, löste sich langsam von seinen Freunden und schwamm ein paar Züge in ihre Richtung. Als er neben ihr auftauchte, stützte er sich am Beckenrand ab und musterte sie mit einem freundlichen, etwas verschmitzten Blick.
»Hey«, sagte er zur Begrüßung, »du wirkst, als hättest du’s raus, wie man das Leben genießt.« Ann-Kristin blickte zu ihm und legte den Kopf leicht schief.
»Merkt man das? Hat ein bisschen gebraucht, bis ich’s wieder gelernt hab, aber ja, jetzt gehts.«
Sie schwammen nebeneinander her, wechselten ein paar Sätze: über das Wetter, das Wasser, dann über Berlin, der Stadt, in der sie beide wohnten. Es fühlte sich leicht an – Ina-Kristin merkte, wie sie sprach, ohne sich innerlich zu überprüfen. Selbst als sie erneut wahrnahm, dass ihr Körper währenddessen Urin abgab, wie immer ohne Vorwarnung, blieb sie konzentriert beim Thema. Der Badeanzug hielt, was er versprach. Und sie verspürte nicht einmal Scham, auch etwas, das ihr vollkommen neu war, sondern reine Freude. Der vertraut gewordene Gedanke an eine schreckliche Blamage war jetzt passé.
Zwischendurch trafen sich ihre Blicke länger. Und Felix, wie sein Name lautete, schien einen Moment zu zögern. Dieses hielt jedoch nicht lange an, denn gleich darauf sagte er leise, beinahe so, als müsse er sich selbst überzeugen:
»Du strahlst etwas aus … als ob dich nichts aufhalten könnte.« War es wirklich so offensichtlich? Ina-Kristin kicherte und nickte – in keiner Weise überheblich, einfach nur ehrlich und weil es richtig war.
Felix stimmte in ihr verhaltenes Lachen ein und berührte spielerisch, oder war es flirtend, mit seiner Schulter ihre.
»Vielleicht verrätst du mir dein Geheimnis – bei einem Eis?« Es schien sich wirklich um einen Flirtversuch seinerseits zu handeln, wie die hübsche Rothaarige mit den Sommersprossen feststellte. Und noch etwas wurde ihr bewusst: Sie war nicht drauf und dran, sich in ihr übliches, schutzbietendendes Schneckenhaus zurückzuziehen, sondern hatte Lust darauf, auf seine erste, zarte Annäherung einzugehen. Denn er gefiel ihr, sogar richtig gut, nicht nur äußerlich mit seinem dunklen Teint und den schwarzen Brusthaaren, auch seine positive Ausstrahlung sprach sie unheimlich an.
»Nur wenn du mit mir um die Wette vom Beckenrand springst.« Felix zog eine Augenbraue hoch und lachte jetzt lauter.
»Deal. Aber ich warne dich, ich hab in meiner Kindheit ernsthaftes Arschbombentraining gemacht.«
»Ich bin bereit«, antwortete Ina-Kristin und schob sich mit einem kräftigen Armzug in Richtung Beckenrand, wohin er ihr folgte.
Sie zogen sich beide gleichzeitig aus dem Wasser, standen tropfend, in ihren klitschnassen Schwimmklamotten, auf den warmen Fliesen. Wieder schmiegte sich Ina-Kristins besonderer Schutz eng an ihren Körper heran – der feuchte Stoff glänzte in der Sonne, ohne irgendetwas von dem zu verraten, was sie vor den Augen anderer verbergen wollte.
Erneut lief es kribbelnd aus der Öffnung ihrer Harnröhre heraus. Der Badeanzug war ohnehin durchnässt – selbst wenn es in diesem Moment schiefgehen und ihr Pipi auf die Fliesen heruntertropfen sollte, würde es niemandem auffallen.
»Auf drei?« Grinsend riss Felix sie aus ihren Gedanken.
»Auf drei. Kein Schummeln!«
»Ich doch nicht!«
Sie standen nebeneinander, schauten auf die glitzernde Wasseroberfläche vor ihnen. Geräusche um sie herum verschwammen, in diesem Augenblick gab es nur sie beide, die Sonne und den unausgesprochenen Schwur, es leicht zu nehmen.
»Eins, zwei, drei!«
Sie sprangen gleichzeitig. Ina-Kristin kreischte vor Lachen auf, als sie kurz durch die Luft flog – danach klatschte sie ins Wasser, tief eintauchend, um gleich wieder an die Oberfläche zu schwimmen.
Nachdem sie sich emporgearbeitet hatte, entdeckte sie Felix, der gerade erst hochkam und neben ihr nach Atem rang.
»Okay, du bist gut«, gab er grinsend zu, »ich muss meine Arschbombenkünste wohl doch mal auffrischen.«
»Oder dich einfach geschlagen geben«, schlug sie lachend vor. Ihre Wangen glühten, jedoch nicht vor Anstrengung.
Und dann war er plötzlich da, dieser Moment, ein bisschen kitschig, ohne dass es forciert worden war, der beiden bewusst machte, dass da mehr war zwischen ihnen. Oder dass es zu mehr führen könnte. Das Gefühl, jemandem begegnet zu sein, der tief in das Innere schaut und sieht, was verborgen ist – und gleichzeitig, was wirklich zählt.
Ina-Kristin schwamm ein Stück weg und rief, über die Schulter hinweg:
»Das Eis schuldest du mir auf jeden Fall.«
»Klar«, erwiderte Felix, »du hast ja schließlich gewonnen!«
»Das wollte ich hören!« Ina-Kristin lachte hell, drehte sich im Wasser, streckte sich lang aus und ließ sich treiben. Sie hatte keine Ahnung, was sich aus dieser neuen Bekanntschaft entwickeln könnte, wusste nicht, ob Felix bleiben würde oder nur dieser Tag als eine schöne Erinnerung. Einer Sache jedoch war sie sich vollkommen sicher: Die Sommernachmittage gehörten wieder ihr. Mit allem drum und dran, ohne Angst und frei von Scham. Und das war mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte.
Felix bestand auf zwei Eissorten: Pistazie und dunkle Schokolade, wie es sein soll, meinte er. Ina-Kristin wählte Mango, was ihn wiederum dazu brachte, ihr ein kleines bisschen mit seiner Waffel zu stibitzen. Die beiden lehnten an der Rückwand der Eisbude, im Schatten der heißen, schmelzenden Stille des Nachmittags. Hinter ihnen duftete es nach Chlor, Sonnencreme und Sommer.
Sie plauderten über Musik, alte Urlaube, verrückte Freibadrituale. Und als sie lachten, oft und echt, spürte Ina-Kristin bei jedem einhergehenden Lockerlassen, wie sich frischer Urin seinen Weg bahnte. Kurz drängte sich die Besorgnis auf, ob man eventuell etwas riechen könnte, doch sie beschloss, der meeresblauen Neuentdeckung zu vertrauen. Sie wollte sich den Augenblick nicht zerstören lassen. Denn selbst wenn es so wäre, was könnte sie daran noch ändern? Es war vielmehr der leise Wunsch nach lang vermisster Nähe, dem sie den Vorrang geben wollte, ganz ohne die Verteidigung und Vorbehalte aus früherer Zeit.
Irgendwann hatte seine Hand leicht die ihre berührt. War es Absicht gewesen? Sie konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen, spürte aber, dass ihr Herz innehielt. Seine Stimme war jetzt ruhiger und weicher als zuvor bei ihrer aufgelockerten Unterhaltung.
»Ich würd dich gern wiedersehen«, sagte er. Kein Zögern. Kein Kalkül. Sie lächelte, blickte kurz auf den halb geschmolzenen Rest ihres Eises hinunter und dann in seine Augen.
»Ich dich auch.«
Einige Tage später hielt sie ihr Smartphone in der Hand und las die Nachricht, die darin stand, immer wieder. Zwar nur ein simpler Satz, doch für Ina-Kristin unendlich wertvoll:
›Hast du Sonntag Lust auf ein Treffen und meinen miesen Kaffee?‹
Ihre Antwort kam schneller, als sie es selbst erwartet hatte:
›Nur wenn du versprichst, mich wieder zum Lachen zu bringen.‹
Seit dem Tag im Freibad hatten sie sich ein paar Mal geschrieben. Keine langen Gespräche, ein wenig Geplänkel, humorvoll, unkompliziert, mit dem ersten Ansatz knisternder Verliebtheit. Hierbei hatte sich in Ina-Kristin etwas verfestigt, von dem sie wusste, dass es dorthin gehörte. Zu ihr. Doch es gab auch das Wissen darüber, dass sie nicht das war, was man ›normal‹ nannte. Dass es da etwas gab, das früher oder später ausgesprochen werden musste: Ihre Blasenschwäche. Die ungeliebte Inkontinenz. Mitsamt der Offenlegung über den Schutz in Form von Windeln, den sie im Alltag trug. Tagsüber und in der Nacht – die Unsicherheit in den intimen Momenten von Nähe. Die Sorge, dass ein Zuviel an Offenheit alles zerstören könnte.
Aber diesmal war es anders – vielleicht, weil die neue Freiheit, was ihre Freizeitplanung betraf, sie entspannter und mutiger hatte werden lassen. Und weil es Felix war, der lässige, unkonventionelle Musiker, dem sie sich vorstellen konnte, ihr Vertrauen zu schenken.
Sie dachte an sein Lachen zurück, an seinen Blick am Beckenrand. Dazu seine Worte: ›Du strahlst, als ob dich nichts aufhalten könnte.‹
Wahrscheinlich, vermutete sie, war es an der Zeit, genau das zu leben.
Drei Tage später sahen sie einander wieder. Und es war erneut das Freibad, in dem sie sich trafen. Nicht weil es unbedingt so sein sollte, sondern weil es sich besonders hier so leicht anfühlte – bekannt, frei von Druck und vor allem ohne Windel. Einfach nur mit einem Badeanzug bekleidet, so wie es jede andere Frau hier ebenfalls tat.
Es war Sonntag, Felix hatte starken Kaffee in einer Thermoskanne dabei und brachte Eis in einer kleinen Kühlbox mit – diesmal Mango für sie beide.
Später gingen sie am Beckenrand spazieren. Sie schlenderten gemütlich; Ina-Kristin erzählte ihm von ihrer Arbeit, er berichtete von einem Festival, auf dem er bald Musik machen würde. Und irgendwann standen sie wieder hinter der Eisbude, dort, wo der Schatten fiel, die Geräusche leiser wurden und der Wind nur noch sachte durch die Baumkronen rauschte.
Felix drehte sich zu ihr. Er schaute sie an – nicht, wie jemand, der etwas erwartet, sondern wie jemand, der sehen möchte, was wirklich da ist. Ina-Kristins Aufregung war geradezu greifbar und in exakt diesem Moment lief es – wie so oft, wenn sie es am wenigsten brauchen konnte. Es wurde heiß in ihrem Schoß und verräterisch nass. Augenblicklich nahmen ihre Wangen die Farbe eines hellen Rottons an. Hoffentlich merkt er nichts, war der niederdrückende Gedanke, der sie höchst unpassend überkam. Doch diesmal ließ sie ihn nicht zu, stattdessen trat sie einen winzigen Schritt näher. Felix senkte den Kopf; ihre Nasenspitzen berührten sich.
»Ich mag dich«, flüsterte sie, »und ich hab ein paar Dinge, die ich dir irgendwann sagen möchte. Nicht heute. Aber bald.« Er antwortete nicht sofort. Mit der linken Hand schob er sachte eine Haarsträhne hinter ihr Ohr, ganz sanft, und raunte ihr zu:
»Ich mag dich auch, sogar sehr. Und ich bin kein Fan von Eile – von Ehrlichkeit aber umso mehr. Sag’s mir, wenn du bereit bist.« Nach diesen Worten küsste er sie. Langsam, behutsam, so liebevoll er konnte und sein Herz es ihm vorgab. Gern erwiderte Ina-Kristin den zärtlichen Kuss; hierbei brach etwas auf. Nicht die harte Schale, die ihr Geheimnis umgab, noch nicht, doch diese eine bestimmte Angst. Und das war ein guter Anfang.