Mächtig unter Druck – Der Not gnadenlos ausgeliefert (Kurzgeschichte)

Mächtig unter Druck
Der Not gnadenlos ausgeliefert

Von Rebecca Valentin

Kurzgeschichte, erschienen am 12.06.2025

VG Wort

Symbolbild: Frau eilt zusammen mit ihrem dringend groß müssenden Mann durch Madrid..

 

Die Mittagssonne hatte sich wie eine angenehm warme Decke über die Dächer Madrids ausgebreitet. Es war Insas und Niclas’ zweiter Urlaubstag. Auf der Plaza Mayor glitzerten Weingläser und Straßenmusiker spielten beschwingte Flamenco-Klänge. Das junge Ehepaar saß auf einer schmiedeeisernen Bank und beobachtete das Treiben – lächelnd, eng beieinander, als wären sie vom südländischen Lebensgefühl bereits komplett erfüllt.

»Wie konnte ich nur vergessen, wie schön es ist, einfach nur dazusitzen?«, schwärmte Insa, die die wohltuende Frühlingssonne auf ihrer Haut genoss wie einen seltenen Schatz.

»Weil wir sonst immer irgendwo hinmüssen«, erwiderte Niclas. »Termine, Pläne, Meetings.«

»Und du mit deinem ständigen ›Zack, Zack‹.«

»Ich bin halt effizient«, grinste er und legte den linken Arm liebevoll um die schmalen Schultern seiner Frau. Diese lachte und stieß ihm sanft den Ellenbogen in die Seite. Alles an diesem Tag war leicht, beschwingt und federnd. Es war ihr erster Kurzurlaub seit über einem Jahr, und sie hatten sich spontan für Madrid entschieden – keine Arbeit, kein Stress, kein Programm. Nur ein kleines Hotel im Stadtteil Malasaña, ein paar Tage Sonne und das Versprechen, einfach zu bummeln und zur Ruhe zu kommen. Und das taten sie – allerdings konnte zu diesem friedvollen Zeitpunkt keiner von beiden vorausahnen, auf welch dramatische Weise ihnen die Ruhe noch geraubt werden würde …

 

Wenig später, nachdem sie in einem Straßenlokal einen typisch spanischen, pikant mit Chili und Knoblauch gewürzten Imbiss zu sich genommen hatten, schlenderten sie Arm in Arm durch die Gassen des Viertels. Sie bewunderten die bunten Fliesenfassaden und lehnten sich aneinander, wann immer sie stehen blieben, um den Straßenkünstlern zuzusehen. Insa kaufte sich ein Souvenir auf einem kleinen Markt, indessen Niclas Oliven in allen Geschmacksrichtungen probierte, die Spanien hergab. Es war einer dieser Tage, die langsam vergehen, ohne langweilig zu werden – weil das Paar alles, was es wollte, bereits bei sich hatte.

 

Während Insa in der Fortsetzung ihres Bummels einen der ansässigen Keramikkünstler bewunderte, wurde Niclas plötzlich stiller. Er nickte mechanisch, als Insa von den hübschen Vasen und Skulpturen sprach, und wirkte zunehmend abwesender. Schließlich blieb er mitten auf dem Gehweg stehen. Bis eben war der winzige, fast unmerkliche Ruck in ihrer friedvollen Harmonie von Insa nicht bemerkt worden, nun jedoch schaute sie sich besorgt zu ihrem Partner um.

»Was ist los?«, fragte sie, »stimmt etwas nicht?« Niclas zögerte mit der Antwort; seine Stirn zog sich leicht zusammen.

»Insa-Schatz, ich … ich muss aufs Klo.«

»Oh.« Sie trat näher. »Wie dringend ist es?«

Er sah sich kurz um, als wolle er sicherstellen, dass niemand mithörte, und senkte dann die Stimme:

»Dringend genug, dass ich nicht mehr entspannt weiterspazieren kann.« Seine hübsche, blonde Ehefrau erkannte die Ernsthaftigkeit in seinem Blick. Es war nicht das erste Mal, dass Niclas’ Verdauung ihre Urlaubspläne durchkreuzte – sein Magen und Darm waren empfindliche Mitreisende.

»Okay«, erwiderte sie sofort, »sicher lässt sich hier in der Nähe ein WC-Häuschen oder etwas in der Art finden.« Im selben Augenblick schaltete sie gedanklich um, wandelte sich von der Flaneurin zur Einsatzleiterin – wie es schon oft geschehen war, wenn Niclas ein bestimmtes Gewürz im Essen nicht vertragen oder er sensibel auf die Umstellung im Urlaub reagiert hatte.

Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche und öffnete reflexartig Google Maps. Flink tippte sie das Wort ›Toilette‹ in das Suchfeld ein. Sofort darauf erhielt sie das Ergebnis: Eine öffentliche Anlage in einem Park, etwa 850 Meter entfernt, dazu die exakte Zeitangabe zur Bewältigung der Wegstrecke.

»Zehn Minuten von hier«, gab sie das Gelesene wieder.

„Zehn Minuten sind … machbar“, sagte Niclas, wobei seine Stimme weniger überzeugt klang, als er wirken wollte. Tatsächlich stand er bereits mächtig unter Druck – stärker, als er es vor seiner Frau zugeben und vor sich selbst wahrhaben mochte.

 

Arm in Arm machten sie sich auf den Weg, bogen in eine Seitenstraße mit alten Pflastersteinen ein und behielten ihr Ziel eisern im Blick. Touristen strömten ihnen entgegen, lachten ausgelassen, hielten Zigaretten und To-go-Kaffeebecher in den Fingern oder stoppten abrupt, um Fotos zu machen.

Mit jedem Meter beschleunigten sich Niclas’ Schritte. Insa nahm seine Hand und drückte sie beruhigend.

»Ich hab dich nicht verlassen, als du diesen furchtbaren Neujahrsbraten gekocht hast, und ich werde dich auch jetzt nicht allein lassen.« Der Dunkelhaarige lachte angestrengt.

»Das war Lamm mit Granatapfel!«

»Es war eine Beleidigung für jeden Gaumen.« Sie stimmte in sein angespanntes Lachen ein.

 

Einige Meter weiter entdeckten sie eine Coffeebar mit nach vorn zur Straße liegender, einladender Terrasse. Die Hoffnung, bereits vor Erreichen des Parks ein Klo gefunden zu haben, flackerte in beiden auf. Mit dem Handrücken wischte sich der Dunkelhaarige die ersten Schweißperlen fort, die sich auf seiner Stirn gebildet hatten.

»Warte hier«, bestimmte Insa und eilte hinein. Nachdem sie wieder herausgekommen war, schüttelte sie den Kopf.

»Nur für Gäste.«

»Egal, zur Not trinke ich auch drei Espressi«, keuchte Niclas.

»Wenn du hier drei Espressi trinkst, suchen wir keine fünf Minuten später das nächste WC, das weiß du.« Seufzend gab er seiner Frau recht.

 

Eiligen Schrittes liefen sie weiter. Noch immer lag der Park ein ganzes Stück entfernt. Auf halbem Weg erschien plötzlich die nächste Gelegenheit, die ihnen Hoffnung auf die unausweichliche Darmentleerung schenkte: ein großes, altehrwürdiges Museum. Bestimmt gab es dort eine Toilette.

Im Eingangsbereich war es ebenso kühl, wie die Mitarbeiterin an der Kasse reagierte.

»Entrada solo con boleto.« Sie würden also nur hineingelassen werden, wenn sie sich eines der teuren Tickets kauften. Bei allem Unwillen, die verhältnismäßig hohe Summe aufbringen zu wollen, war es einen Versuch wert, die Dame zu überreden, sie ohne das erforderliche Eintrittsgeld einzulassen, wie Insa befand. Die wenigen Brocken der spanischen Sprache, die sie sich vor diesem Kurzurlaub angeeignet hatte, würden ihr hoffentlich behilflich sein:

»Dürfen wir ganz kurz hinein … ¿Podemos echar un vistazo rápido? Bitte, mein Mann ist sehr, sehr … Por favor, Mi esposo está muy, muy … in Not.«

Die bunt gekleidete Frau musterte zuerst sie, dann Niclas, dessen Haltung tatsächlich viel über seinen Zustand aussagte. Sie dachte einen Moment lang nach und schüttelte dann bedauernd den Kopf. Regel ist Regel, entschuldigte sie sich, ohne Ticket kein Einlass. Insa schaute zu ihrem Ehemann herüber, dieser winkte ab. Obwohl es heftig in ihm drängte, regte sich augenscheinlich etwas wie Trotz in ihm, der ihn angesichts der mitleidlosen Resolutheit der Museumsangestellten zu seiner Entscheidung bewog.

 

Wieder auf der Straße war Niclas deutlich blasser geworden. Insa sah es ihm an: Der innere Kampf war im vollen Gange. Seine Selbstachtung rang mit der kaum noch zu unterdrückenden Ka**not. In aufrechter Haltung, die Pobacken fest zusammengepresst stand er da – nach außen würdevoll erscheinend, innerlich aber niedergedrückt und in heller Aufregung. Er spürte, wie sich bereits etwas aus seinem Schließmuskel hinauszwängen wollte, doch noch war er in der Lage, dieses zu verhindern, wenn auch unter erheblicher Anstrengung.

 

Bei Erreichen des verwilderten Parks und nach dem Entlanghetzen der Wege, deren grüngesäumte Ränder sich unkontrolliert bis in die Flächen hinein ausbreiteten, erblickten sie es gleichzeitig: Die Türen des heruntergekommenen Klohäuschens waren fest mit Brettern vernagelt – dauerhaft geschlossen, aus welchem Grund auch immer. Niclas keuchte gequält auf:

»Fuck, ich hatte so gehofft …«

»Ich weiß …«

„Dann vielleicht … irgendwo in … in einem Einkaufszentrum?“, schlug er stöhnend vor.

„Warte, ich suche …“, kündigte Insa an und tippte. Das Ergebnis kam wieder schnell auf ihr Display. »Es gibt eines, sechs Minuten entfernt«, las sie vor.

»Oh, nein, so weit?« Niclas’ Stimme zitterte hörbar. In seinem Darm rumorte und rumpelte es bedrohlich; der Anfang der weichen, braunen Masse drohte, sich nach außen zu schieben. Er spannte jeden Muskel des Unterleibs an und wendete alle Kraft auf, um ein vorzeitiges Herausrutschen seines Darminhalts eisern zu unterbinden. Seine Ehefrau sah ihm das innere Gefecht an, hatte für den Moment jedoch auch keine andere Lösung parat, als die rastlose Suche nach einem WC fortzusetzen.

»Leider ja, gehen wir«, forderte sie ihren Liebsten daher auf.

 

Der Weg zog sich schier endlos hin. Niclas’ Gang wurde zunehmend vorsichtiger. Jeder Schritt schien nun taktisch gewählt, seine Augen verengten sich zu einem Tunnelblick. An einer belebten Straßenkreuzung roch es nach gebratenem Fisch, irgendwo spielte jemand Akkordeon, ein Kleinkind schrie lautstark – der Trubel von Madrid wurde plötzlich zur Reizüberflutung. Insa hielt Ausschau, als ginge es um Leben und Tod. Sie erkannte an Niclas’ Miene und den Schweißtropfen auf Stirn und Schläfen, dass es sich für ihn exakt so anfühlen musste. Wieder einmal war er seinem Verdauungssystem auf Gedeih und Verderb ausgeliefert …

»Hältst du noch durch?«, erkundigte sie sich vorsichtig.

»Ich kann … nicht mehr reden«, antwortete er stockend, »ich muss mich … wahnsinnig konzentrieren.« Und so war es: Er war dermaßen kurz davor, die Kontrolle zu verlieren und sich gnadenlos in die Hose zu ka**en, dass er für nichts anderes mehr Energie übrig hatte als für sein kräftezehrendes Einhalten.

 

Endlich erreichten sie das Kaufhaus, stürmten durch den Haupteingang hinein und fuhren mit der Rolltreppe drei Stockwerke hinauf. Dort erschien es gleich einer höchst willkommenen Rettung vor ihnen: Das universelle WC-Logo auf einem Hinweisschild, wie man es überall auf der Welt erkennt. Niclas murmelte lediglich ein ›Gott sei Dank‹ und hetzte, seiner Frau einen letzten Blick über die Schulter zuwerfend, in Richtung der Herrentoilette davon. Jetzt aber schnell, war alles, was er noch denken konnte, während er sich unendlich über die bevorstehende Erlösung aus seiner Not freute.

Insa blieb allein im Flur, setzte sich auf eine Bank und betrachte die Menschen ringsherum: Paare, lachende Kinder mit bunten Ballons, eine ältere Dame mit violettem Lippenstift. Sie lehnte sich zurück; ihre Mission war geglückt. So zumindest dachte sie …

 

Die junge Frau wartete geduldig in der dritten Etage, die Augen wieder auf die Tür des Herren-Sanitärbereichs geheftet. Doch als Niclas heraustrat, war es nicht mit dem erwarteten Ausdruck der Erleichterung. Stattdessen sprach sein enttäuschter Gesichtsausdruck Bände. Blasser als zuvor, der gesamte Körper in vorsichtiger, starrer Haltung. Er vermied es, seine Frau anzuschauen, und bewegte sich in kontrollierten, nahezu roboterhaften Schritten vorwärts.

Insa stand auf.

»Nein!« Er nickte kaum merklich.

»Doch. Nur … die Waschbecken sind zugänglich. Das Klo nicht. Wegen Reparaturen oder was weiß ich …«

 

Sie sah ihn an – diesen Mann, den sie mit jeder Falte, jedem Lächeln und jedem Magenknurren kannte. Sie sah nicht nur seine körperliche Notlage, sondern auch die emotionale: das Tauziehen um die Aufrechterhaltung seiner Würde, das grenzenlose Unbehagen und die blanke Verzweiflung.

»Ich kann nicht mehr, Liebes«, bracht er gepresst hervor, »es ist so kritisch, gleich sch**ße ich mich ein.« Mit dem Mut der Entschlossenheit ergriff Insa erneut das Kommando.

»Dann jetzt Plan B«, teilte sie ihrem desperaten Ehemann mit, ohne eine derartige Alternativlösung überhaupt in petto zu haben. »Du setzt dich eben hier hin. Ich finde was. Irgendwas.« Niclas schüttelte den Kopf.

»Ich kann nicht sitzen. Ich muss mich bewegen. Ich … ich bin wie ein Vulkan in der Endphase, kurz vor dem Ausbruch, weißt du, was ich meine?« Und ob sie es wusste. Zu oft hatte sie ihren geliebten Ehemann schon in einer solch fatalen Lage erlebt, als dass ihr seine aufkommende Panik unbekannt sein könnte.

 

Eilig verließen sie das Warenhaus. Insa telefonierte währenddessen mit dem Hotel, welches jedoch viel zu weit entfernt lag. Zu riskant, der Rückweg würde zu lange dauern.

Wieder durchquerten sie die belebten Straßen, suchten praktisch ohne Plan. Plötzlich, an einer Straßenecke, sprang es ihnen geradewegs ins Auge: Ein kleines, unscheinbares Schild, leicht verwittert. Biblioteca municipal – eine städtische Bibliothek, nur knapp 50 Meter entfernt. Unaufdringlich, aber geöffnet.

»Da. Komm. Vertrau mir.« Insa hoffte von Herzen, dass sie dort finden würden, wonach es Niclas so unsagbar brennend verlangte.

Mittlerweile hatte er das Sprechen eingestellt. Er ging wie von fremder Hand aufgezogen; jeder Schritt eine kleine Heldentat.

Die schlanke Blondine lief voraus, schirmte ihn vor entgegenkommenden Menschen ab und bahnte ihnen den Weg wie eine versierte Pfadfinderin durch das Dickicht der Stadt.

Die Bibliothek lag ruhig und kühl unter Platanen. So schnell sie konnte, stürmte Insa hinein, sprach mit der Empfangsdame, indem sie zur Hälfte ihr karges Spanisch nutzte und sich zur anderen auf Englisch und mit sämtlichen, zur Verfügung stehenden Fingern beider Hände verständigte. Ihr bittender Blick rundete den Eindruck umfassender Dringlichkeit ab, den die Frau am Empfang augenblicklich verstand.

»Segundo pasillo, a la izquierda«, reagierte diese mit einem sanften Lächeln und deutete gleichzeitig in die Richtung, von der sie gesprochen hatte: Zweiter Gang, links.

Niclas hastete los, diesmal ohne einen Blick zurückzuwerfen, während Insa erneut durchatmete, jetzt allerdings von einem flehentlichen Stoßgebet gen Himmel begleitet, dass ihr Herzensmensch bei diesem Mal wirklich das WC benutzen könne, das er so unbeschreiblich dringend benötigte.

Die Minuten verstrichen. Von einer Holzbank im Eingangsbereich aus betrachtete sie ein Wandplakat über eine Ausstellung zu Miguel de Cervantes. Neben ihr diskutierten zwei Frauen leise etwas zuvor Gelesenes, irgendwo fiel ein Buch zu Boden.

 

Einige Momente später kehrte Niclas zurück – mit aufrechtem Gang, gelassen und einem befreiten Lächeln auf den Lippen.

»Wenn ich dich nicht hätte, mein Schatz … Du hast mich wieder mal gerettet.« Er zog die beste Ehefrau von allen fest an seine Brust. Insa grinste glücklich in den dunklen Stoff seines T-Shirts hinein. Gleich darauf begannen beide erleichtert zu lachen, erst leise, dann immer lauter, bis eine Bibliothekarin sie freundlich zur Ordnung mahnen musste.

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