Schwerelos – Pinkeln im Raumanzug (Kurzgeschichte)

Schwerelos
Pinkeln im Raumanzug

Von Martin Philips

Kurzgeschichte, erschienen am 28.02.2003

VG Wort

„Das hätten wir“, sagte Dave erleichtert und seufzte in sein Mikrofon.

„Wir liegen gut in der Zeit, sehr gut sogar“, antwortete ich, während mir Mission-Control ins Wort fiel:

Good job, guys! Time to go home.“ Von wegen! Mit kurzen Sätzen machte ich dem Einsatzleiter in der Bodenstation klar, dass ich die vier Minuten, die wir weniger als geplant für die Reparatur an dem Satelliten gebraucht hatten, gern noch hier draußen bleiben wollte. Einige Sekunden Funkstille – ok, genehmigt!

Dave verschwand in Richtung der engen Luftschleuse, die ohnedies nur für eine Person Platz bot, mit den Worten:

„Lass mir ruhig den Vortritt, ich muss ohnehin dringend pinkeln.“

 

Da schwebte ich nun ganz allein, etwa 25 Meter neben dem Raumtransporter, im Weltall. Endlich konnte ich, ohne eingeschränkte Sicht und ohne an irgendwelche Arbeitsabläufe denken zu müssen, in Ruhe die einmalige Aussicht auf unseren Planeten genießen. Dieser Anblick war einfach nur atemberaubend. Aus dieser Entfernung sah alles so friedlich aus – von dem Gewusel, den Problemen und Gehässigkeiten keine Spur. Und was machte Dave? Er ging schlichtweg rein, um zu pinkeln … Darüber konnte ich nur grinsend den Kopf schütteln.

Ich spürte ebenfalls den Druck in meiner Blase, doch dafür auf diesen Ausblick verzichten? Niemals! Im Gegenteil: Ich wollte diesen unvergesslichen Moment noch damit unterstreichen, mir in den Anzug zu pinkeln. Für diesen Fall sind Astronauten bei Weltraumspaziergängen mit einer Spezialwindel präpariert. Aber der Kollege steht da wohl nicht drauf. Oder seine Windel war bereits randvoll – über so etwas spricht jedoch keiner. Das Thema wird in der Raumfahrt rein zweckmäßig behandelt, doch das sollte mir jetzt egal sein.

Schwerelos dahintreibend entspannte ich meinen gesamten Körper. Durch das Vakuum um mich herum nahm der Raumanzug eine Form an, als hätte man ihn auf der Erde bis kurz vorm Platzen mit Luft vollgepumpt. Ich streckte folglich alle viere von mir und konnte meinen Blick nicht von dem wunderschönen, blauen Planeten unter mir abwenden. Passende Musik wäre noch schön gewesen, um das monotone Surren des Lebenserhaltungssystems zu übertönen, aber wie bereits erwähnt: alles zweckmäßig.

 

Ich merkte, wie es langsam warm und feucht wurde. Kein Wunder, wenn man so viel Wasser unter sich sieht. Hey Leute, seht mal rauf! Ich pinkle mir gerade in die Hose, ging es mir durch den Kopf. In der Schwerelosigkeit fühlte sich das Einpinkeln anders an, als auf der Erde. Die Nässe breitete sich gleichermaßen in alle Richtungen aus. Mich hätte interessiert, wie das wohl in einer Jeans aussähe. Aber mit offiziellen Forschungs-Projekten in dieser Richtung war in naher Zukunft eher nicht zu rechnen … Einzig, dass ich dort oben öfter pinkeln musste, als unter den normalen Gravitationsverhältnissen zuhause, ist in irgendeiner Statistik dokumentiert worden.

Irgendwie war es ungewohnt, dass nichts, wie ansonsten üblich, zwischen die Beine lief. Dennoch tat es gut, den Körper einfach mal ganz zu entspannen. Diese überwältigende Aussicht, die Schwerelosigkeit und es dabei genussvoll laufen zu lassen, war ein irres Gefühl.

 

„Hey, alles ok? …“, wurde ich plötzlich angefunkt, „dein Puls ist auffällig hoch!“

„Alles in Ordnung …“, antwortete ich, „muss wohl an dem Ausblick liegen.“

„Dann komm mal wieder rein, sonst geht dir noch die Puste aus. Außerdem sind die vier Minuten sofort um.“ Verrückt – vier Minuten. Es kam mir vor wie ein paar Sekunden, aber so ist es ja immer, wenn’s gerade schön ist …

 

Die Erde von oben