»Und du traust es dir wirklich zu?« Lina zuckte mit den Schultern.
»Klar, kein Problem …« Ricardo hatte gegrinst, aber es war nur halb ernst gemeint. Dieses typische Es-geht-um-alles-Grinsen, mit dem er stets versuchte, seine Nervosität zu überspielen.
Eine Woche war es nun her, dass er seine Freundin gefragt hatte, ob sie das Konzert filmen würde – nicht irgendeinen Auftritt, sondern das Konzert, das den Durchbruch bringen könnte. Der erste Gig vor über tausend Menschen, als der Beweis, dass ihre Musik mehr war als nur ein Proberaumprojekt. Ricardo plante, das fertige Video bei YouTube und anderen Plattformen einzustellen und es sogar an einige Plattenfirmen zu schicken. Vielleicht würde ein Label sich trauen, etwas Großes mit ihm und seiner Band zu starten. Für ihn hing viel vom Gelingen ihres Einsatzes ab.
Die Sonne schien warm über dem alten Industriegelände am Stadtrand, wo sich bereits eine Menschentraube vor der Bühne gebildet hatte. Etwa dreitausend Fans, hatte der Veranstalter gesagt. Dreitausend! Für Ricardo war das gleichzusetzen mit einer Stadiontour. Und in all dem Trubel stand Lina, bereute ihre große Klappe, ihre unüberlegte Einwilligung zu filmen und die Tatsache, dass sie bei enormer Aufregung besonders nötig pinkeln musste.
Sie hielt die Kamera fest an sich gedrückt, eine gebrauchte, die sie vor einigen Tagen in einem Second-Hand-Laden im Schanzenviertel aufgetrieben hatten. Der Akku hielt laut Verkäufer »so ungefähr« zwei Stunden – wofür er ihnen Glück wünschte. Sie besaßen kein Ersatzgerät, kein Stativ und Lina keine Ahnung, wie man Weißabgleich und Lichtverhältnisse richtig abstimmte. Aber sie hatte Ricardo, der sie ansah, als hinge sein Traum an ihren Fingern.
Natürlich hatte sie sofort Ja gesagt. Weil sie wusste, was dieses Event für ihn bedeutete, und dabei nicht ahnte, dass ihrer Blase ein so unvermeidlicher wie fataler Kontrollverlust bevorstand.
Der Tag war schon dramatisch gestartet: große Eile, das Zusammenpacken des Equipments, das Heraussuchen der Bühnenklamotten, Hektik beim Verladen und keine Gelegenheit, zwischendurch pinkeln zu gehen. Und nun war es zu spät – jetzt drückte ihre Blase gewaltig und das Konzert hatte noch nicht einmal angefangen.
Die Bühne war noch leer, irgendwo dröhnte ein Generator. Lina ging ein paar Schritte bis an die Metallumzäunung zurück, versuchte, das Gelände zu überblicken. Betonmauern, ein altes Lagerhaus, darauf Graffiti in Neonfarben – der perfekte Ort für Musik, die noch roh war und ein bisschen dreckig. Am Rand standen Dixie-Klos für all die Leute. Aber auch für sie? Würde sie es noch schaffen, schnell rüberzuhuschen? Die Frage war berechtigt und bereitete der hübschen Lina Sorgen, denn den Konzertbeginn zu versäumen, würde sie sich niemals verzeihen – Ricardo wahrscheinlich ebenso wenig. Nein, entschied sie, das Risiko war zu groß. Und richtig, jetzt erklangen die ersten Töne: Sie hörte das Schlagzeug, das Keyboard, den Bass und – Ricardos Gitarre. Ein kurzes, helles Ping, das sich in der Nachmittagshitze verlor.
So eilig sie konnte, suchte sie sich ihren Platz vor der Bühne – nicht zu nah, nicht zu weit entfernt, und schaltete die Videokamera ein. Einmal drückte sie versehentlich auf Zoom, ein anderes Mal auf Pause. Sie fluchte leise; irgendwo klapperte jemand mit Bierflaschen.
Ein Windstoß fuhr durch ihr Haar, und sie hob die Kamera aufs Neue und richtete den Sucher auf Ricardo, der vorn am Bühnenrand stand. Das Licht blendete, das Display flackerte. Sie atmete tief ein.
»Halte durch, du kriegst das hin«, versuchte sie sich selbst zu motivieren – vor allem aber ihre drängende Blase, wobei sie sich nicht sicher war, ob es half. Mit eng zusammengestellten Beinen war der Druck einigermaßen auszuhalten, insbesondere, wenn sie sich ab und zu ein wenig bewegte. Doch ging das überhaupt? Was, wenn das Bild durch den unruhigen Stand verwackelte und die Aufnahme komplett ruiniert wäre? Das durfte nicht passieren – also ruhig stehen, egal wie!
Diesen Vorsatz einzuhalten, gelang Lina nicht lange. Sie näherte sich dem endgültigen Füllstand ihrer Blase in rasendem Tempo. Immer öfter war sie gezwungen, leicht in die Knie zu gehen, was sie während des Filmens nur mit äußerster Vorsicht tat.
Es reichte nicht aus – bereits einige Minuten später genügte ihrem Unterleib diese sanfte Form der Ablenkung nicht mehr und er schickte Signale an ihr Hirn, die sie zur Verzweiflung trieben. Die Blondine mit den langen Haaren, dem Piercing und der modernen Brille war nicht weit davon entfernt, sich in Slip und Jeans zu pinkeln.
Sie hielt die Kamera beharrlich fest, das Licht flimmerte im Display. Durch den Sucher hätte sie nichts erkannt, die Sonne stand zu tief und brannte schräg in die Linse. Es war zwar nur ein milder Herbstnachmittag, aber auf dem Platz zwischen den Fans stauten sich die Temperaturen.
Die Geräuschkulisse war heftig. Unüberhörbares Mitgröhlen, Jubelrufe, schrille Pfiffe, ein rhythmisches Klatschen, das wie Wellen über das Publikum rollte. Gleich hinter Lina sangen ein paar Fans mit, die Stimmen überschlugen sich vor Begeisterung. Der dumpfe Bass und Ricardos Gesang aus den Lautsprechern, die den Klang verzerrten. Hinter ihr drängten sich Körper an Körper, Ellenbogen, Rucksäcke, klebrige Plastikbecher. Ein süßlich-fader Biergeruch mischte sich mit Schweiß und Staub.
Lina versuchte, das Bild ruhig zu halten und möglichst wenig an ihr Nötigmüssen zu denken. Ricardo sang, die Gitarre hämmerte, das Schlagzeug schepperte – alles vibrierte, sogar der Boden unter ihren Schuhen. Und auch in ihr. Inzwischen stand sie mit fest überkreuzten Beinen da, wusste weder ein noch aus und war sich sicher, dass die Minuten gezählt waren, bis sie nicht mehr durchhalten könnte. Sie spürte, wie sich Schweiß in ihrem Nacken sammelte. Sie wollte sich konzentrieren, schaffte es aber kaum noch – und dabei hatte sie noch nicht mal die Hälfte hinter sich gebracht. Einmal sah Ricardo kurz in ihre Richtung. Nur ein winziger Blick – aber lang genug, dass sie wusste: Er zählt auf sie.
Bei all der Anstrengung und der Panik, die langsam in ihr hochkam, hielt Lina die Kamera weiterhin tapfer auf die Band gerichtet. Was sollte sie ansonsten tun? Sie hatte keine andere Wahl, als es durchzuziehen – für Ricardo, für ihre Liebe …
Zu gern würde sie sich zumindest eine Hand zwischen die Beine schieben, um sich zuzuhalten und von außen einen Gegendruck zu schaffen, doch daran war nicht zu denken – sie benötigte beide an der Videokamera. Lina tänzelte und hibbelte derart ruhelos, dass sie für die Stabilisierung keine Hand entbehren konnte.
Irgendwann jedoch erreichte ihr Körper einen Punkt, an dem ihr mit Schrecken bewusst wurde, dass ihre Blase begann, selbsttätig zu entscheiden. Denn obwohl sie es mit aller Kraft versuchte, war sie nicht in der Lage, zu verhindern, dass erste Tropfen ihr Höschen benetzten. Es war nur kurz, der Bruchteil einer Sekunde, doch es reichte aus, ihr Herz vor Angst schneller schlagen zu lassen. Brennende Röte schoss in ihr Gesicht.
»Nein, nein, nein«, dachte sie atemlos und presste die überkreuzten Schenkel nur noch fester gegeneinander. Wieder half es für einen kurzen Augenblick, doch dann fühlte sie den zweiten, heißen Schwall in ihren Slip strömen. Sie hätte weinen mögen vor Verzweiflung und dieser schier aussichtslosen Hilflosigkeit, doch würde es sie weiterbringen? Und was sollten die anderen denken?
Um sie herum toste die Menge, die Musik donnerte weiter, Ricardo sang, als ginge es um sein Leben. Und sie stand da, mitten im Gedränge, mit einer zum Platzen vollen Blase und dem unheilvollen Gefühl, bald die Kontrolle zu verlieren.
»Bitte nicht aufgeben, bitte nicht jetzt.« Ihre Gedanken verschwammen im Lärm. Eine junge Frau hinter ihr tanzte gegen sie, ein Plastikbecher flog an ihr vorbei, klebrige Cola spritzte über ihren Hoodie. Es war ihr egal, sie hatte andere Sorgen. Linas Herz raste. Sie erinnerte sich an den Verkäufer im Second-Hand-Laden: ›Zwei Stunden Kapazität, wenn Sie Glück haben‹. Das Glück schien für den Akku auszureichen – jetzt könnte sie noch ein bisschen für die Durchhaltekraft ihrer Blase brauchen, sehnte sie mit Tränen in den Augen herbei. Und ausgerechnet hier kam es drauf an: Ricardo war mitten im Refrain eines sehr beliebten Songs, die Fans schrien, klatschten, tanzten. Neben ihm wirbelte eine Gitarre, hinter ihm die Drumsticks.
Lina kämpfte, verknotete die Beine beinahe miteinander, so eng kniff sie sie zusammen und musste sich doch geschlagen geben: Sie fühlte es überdeutlich, in so blamabler Weise, dass ihr der Augenblick, in dem es unaufhaltbar zu fließen begann, wie auf Zeitlupe gestellt erschien. Machtlos musste sie geschehen lassen, dass sie sich einpinkelte. Das war ihr noch nie passiert, und dann auch noch in einer so bedeutungsvollen Situation und inmitten so vieler Menschen, von denen sie inständig hoffte, dass keiner von ihnen zu ihr schauen, sondern den Blick auf die Bühne gerichtet halten würde. Genauso, wie sie es fortwährend und mit eiserner Disziplin durch die Kamera hindurch tat: Auch als sie spürte, wie ihr Höschen in Windeseile warm durchtränkt wurde und der Urin sich unweigerlich in den Stoff ihrer hellen Jeans sog, filmte sie weiter. Zwar sah sie kaum noch etwas, da ihre Augen vor Tränen regelrecht schwammen, doch sie hielt einfach drauf. Und obwohl sie mit kräftigem Strahl pinkelte und ihre Hose nass und nasser wurde, so extrem, dass es ihr in breiten, glänzenden Bahnen an den Innenseiten hinunterlief, gab sie nicht auf. Ganz im Gegenteil – als würde sie aus dem peinlichen Dilemma besondere Energie schöpfen, gab sie nun erst recht alles. Es lief und lief, aber Lina filmte. Ihre Hände zitterten, doch sie blieb dran.
Die letzten Songs schaffte sie irgendwie – mit ihrer pitschnassen Jeans, bis in die Turnschuhe hinein.
Als das Konzert endete und die Menge jubelnd ausrastete, kämpfte sie sich zur Seite in den Bereich neben dem Bühnenaufbau durch – mit der Kamera in den Händen, außer Atem vor Anspannung, mit einem Höschen, das sich noch immer warm anfühlte und der Jeans, die mittlerweile klamm war. Hauptsache, die Aufnahme war gelungen. Sie traute sich kaum, nachzusehen. Dann drückte sie Play. Das Display zeigte alles Wichtige: Ricardo in Action, die Band, das Publikum. Sie hielt die Luft an – und lachte dann. Zuerst leise, danach lauter, mit hörbarer Erleichterung. Alles war drauf. Alles. Und sie war wieder entspannt. Und die Hose? Die würde schon irgendwann in der Sonne trocknen.
Als Ricardo kurz darauf zu ihr kam, verschwitzt, glücklich, erschöpft, sah sie ihm entgegen, hob die Kamera in die Luft und grinste.
»Du hast es?«, fragte er, als er schließlich neben ihr stand. Sie nickte.
»Ich hab’s.« Lachend zog ihr Freund sie zu sich heran, hob sie ein Stück an und umfasste hierfür ihren Po.
»Hey, du bist nass am Hintern. So krass geschwitzt?«, erkundigte er sich und schaute in diesem Moment zu Linas empor. Diese schüttelte verlegen den Kopf.
»Sagen wir mal …«, druckste sie leicht beschämt herum und fühlte, wie die Röte auf ihre Wangen zurückkehrte, »ich habe alles gegeben … und für dich würde ich es immer wieder tun.«